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Polinnen aus der Spargelhof-Quarantäne packen aus

Grzegorz Szymanowski
13. Mai 2021

Auf einem der größten Spargelhöfe Deutschlands ist das Coronavirus ausgebrochen. Mittlerweile haben sich 131 Menschen infiziert. Polnische Erntehelferinnen berichten von Bedingungen "wie im Horrorfilm".

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Deutschland | Thiermann GmbH in Kirchdorf
Bild: Ingo Wagner/dpa/picture alliance

Agnieszka wusste, dass die Spargelernte Knochenarbeit ist. Auch, dass sie nach ihrer Ankunft in Deutschland zunächst zwei Wochen in Arbeitsquarantäne musste, hatte man ihr gesagt. Aber nach mehr als einem Monat in Isolation hat sie genug: "Wir werden wie Sklaven behandelt, nur vom Hotel zur Arbeit gebracht und zurück."

Ihre Kollegin Ilona weigert sich zu arbeiten. "Ich will nach Hause fahren”, sagt sie. Nun wartet sie auf ihrem Zimmer. Ihre Mitbewohnerinnen arbeiten weiter, daher hat Ilona Angst, dass sie das Virus in die Unterkunft einschleppen. Es wäre nicht nur gefährlich, sondern könnte ihre Quarantäne nochmal verlängern.

1011 Menschen arbeiten derzeit auf dem Spargelhof von Heinrich Thiermann im niedersächsischen Kirchdorf. Vor allem hunderte Polen und Rumänen. Ende April, als die Arbeitsquarantäne begann, waren 47 Arbeiter infiziert. Bis heute sind es bereits 131 Personen.

DW sprach mit sechs polnischen Arbeiterinnen, die am Telefon von der Lage hinter dem verriegelten Tor des Hofs erzählt haben. Ihre Namen wurden im Text geändert. Die DW hat auch Kontakt zu dem Unternehmen aufgenommen. Nach der ersten Veröffentlichung des Artikels auf Polnisch bestätigten weitere Beschäftigte die von uns beschriebenen Zustände. Die Aussagen machen deutlich, wie die Ungleichheiten auf den europäischen Arbeitsmärkten die Verbreitung des Coronavirus begünstigen können.

Tausend Menschen unter Verschluss

Am 30. April verfügte das Gesundheitsamt Diepholz eine zweiwöchige Quarantäne bei Thiermann GmbH. "Aufgrund des diffusen Infektionsgeschehens innerhalb des Betriebs ließen sich die engen Kontaktpersonen zu den nachweislich Infizierten nicht klar definieren”, erklärt Mareike Rein, Sprecherin des Landkreises. Mit anderen Worten: das Virus war überall.

Sogar verheirateten Paaren, die in anderen Teilen des Hofs arbeiten, wurde es verboten, sich zu treffen. Sicherheitspersonal wurde angestellt, um die Quartiere zu bewachen. Mittag- und Abendessen werden serviert. Erst vor wenigen Tagen wurde ein effizientes System zum Einkaufen eingerichtet.

Da die Zahl der Neuinfektionen aktuell wieder sinkt, entschied das Gesundheitsamt, die Betriebsquarantäne aufzuheben - jedoch nicht für alle: Für rund 200 Erntehelfer, die als Kontaktpersonen gelten oder mit Infizierten in derselben Unterkunft gewohnt haben, wurde sie bis zum 18. Mai verlängert. 

Laut Thiermann sind Arbeiter krankenversichert

Weder das Unternehmen noch das Gesundheitsamt teilten auf Anfrage der DW mit, wie viele Menschen im Krankenhaus behandelt werden. Die Arbeiter, mit denen wir sprechen konnten, berichten von möglicherweise bis zu fünf Personen, eine von ihnen soll schwer an COVID-19 erkrankt sein.

Die Thiermann GmbH sagt, dass alle Mitarbeiter versichert sind. Es entstehen "keine Kosten bei Krankheit und sie erhalten eine Lohnfortzahlung”, sagte Sprecherin Anke Meyer der DW. Eine der infizierten Frauen erzählte hingegen, dass sie auch während der Krankschreibung für die Unterkunft bezahlen muss.

Auf dem Hof des Spargelkönigs

Arbeitsquarantäne bedeutet, dass die Arbeiterinnen ihre Unterkunft nur zum Zweck der Arbeit verlassen dürfen. Selbst ein Ausbruch stoppt die Produktion nicht. So wie auf dem Bauernhof von Henrich Thiermann. Er ist einer der größten Spargelproduzenten in Deutschland. Auf seinen Feldern ernten jedes Jahr Hunderte Arbeiter aus Osteuropa Tonnen "des weißen Goldes” von Deutschland.

Laut Thiermann ist die Situation unter Kontrolle. Nach dem Ausbruch versicherte er in einem ersten Interview mit der lokalen "Kreiszeitung”, dass der Betrieb über ein Hygienekonzept verfüge, welches dem Grundsatz "zusammen leben und zusammen arbeiten" folge. Die Mitarbeiter würden zweimal pro Woche getestet und die Sicherheitskräfte überprüften die Quartiere, damit "eine Durchmischung unterbunden wird".

Hand in Hand am Fließband

Marzena wäre vielleicht noch gesund, wenn die Aufteilung gut funktionieren würde. Aber sie und ihre Mitbewohnerin arbeiteten an zwei unterschiedlichen Spargelsortierbändern. Zuerst wurde die Kollegin krank, danach sie selbst.

Sie seien in einer Gruppe von 50 Personen zur Arbeit geführt, und dann in kleinere Gruppen von je zwölf Menschen aufgeteilt worden. "Es wird nicht darauf geachtet wer zusammen wohnt”, sagt sie. "In der Sortieranlage besteht keine Möglichkeit, Abstand zu halten”, die Maschine arbeite schnell, man müsse in Bewegung sein, um Kollegen zu helfen. "Wir arbeiten Hand in Hand”.

Niedersachsen Spargelhof Thiermann in Kirchdorf
"Weißes Gold" - bis zu 3000 Tonnen Spargel produzierte die Thiermann GmbH vor Corona pro SaisonBild: Privat

Unsere Gesprächspartnerinnen erzählen auch von Schutzmaßnahmen im Betrieb. In diesem Jahr wohnen nur zwei oder drei statt acht Personen in einem Zimmer. Die Vorarbeiter achten wohl auch darauf, Schutzmasken zu tragen und Abstände einzuhalten. Die Firma teilt mit, dass unter anderem Arbeitsbereiche vergrößert, Arbeitsprozesse optimiert und reichlich FFP2-Masken bestellt wurden.

Erster Test erst nach drei Wochen

Warum war dann der Ausbruch so massiv? "Sie hätten uns schon nach den ersten Fällen durchtesten müssen, und nicht erst als die Plage ausgebrochen ist”, sagt Agnieszka. Wie die meisten Saisonarbeiterinnen kam sie in der ersten Aprilhälfte auf den Hof. Den ersten Schnelltest habe sie erst drei Wochen später, am 28. April, bekommen.

Wann wurden denn die ersten Fälle entdeckt? In einem weiteren Artikel der "Kreiszeitung" bestätigte Thiermann das Datum des ersten Ausbruchs: 18. April 2021. Die Sprecherin des Landkreises bestätigte der DW die ersten Meldungen in der Woche vom 19. bis 25. April. Die polnischen Arbeiterinnen sprechen selber auch von ersten positiven Fällen am 18. April. "Schon seit Beginn der Saison wurden Schnelltests für alle Mitarbeitenden zur Verfügung gestellt", sagte Thiermann in dem Artikel. "Nicht alle Beschäftigte haben das Angebot angenommen. Als es am 18. April zu der ersten Infektion kam, begannen wir mit regelmäßigen Testungen und wurden dann, als vermehrt positive Fälle auftraten, am 29. und 30. April mit den PCR-Reihentestungen vom DRK und Gesundheitsamt des Landkreises Diepholz unterstützt." Aber von dem Tag der Entdeckung der ersten Fälle bis zur Reihentestung der gesamten Belegschaft hatte das Virus etwa zehn Tage Zeit, um sich auszubreiten.

Deutschland Erntehelfer aus dem Ausland gefragt
Spargelernte: Ausländische Erntehelfer erhalten oft weniger als den Mindestlohn für den KnochenjobBild: Peter Endig/dpa/picture alliance

Streik und Flucht nach Polen

"Es war wie im Horrorfilm”, erinnert sich Barbara an den 28. April, den Tag der Durchtestung. Sie sagt, dass Frauen mit positiven Testergebnissen bis 23 Uhr draußen warten mussten, bis sie in ein anderes Hotel gebracht wurden. "Andere weinten, weil sie nach Hause wollten, aber nicht mehr durften”, erzählt sie.

Noch in derselben Nacht beschlossen etwa hundert Frauen aus einer Unterkunft zu streiken. Die nächsten zwei Tage gingen sie nicht zur Arbeit. Aus Angst vor dem Virus, aber auch weil sie bessere Löhne forderten. Heinrich Thiermann sei zu ihnen gekommen und habe mit den Vorarbeitern gesprochen. Er habe eine Gehaltserhöhung um fünf Prozent versprochen, berichten die Arbeiterinnen.

Einige Personen nutzten die Verwirrung und flohen nach Polen ohne Bezahlung. Die Thiermann GmbH antwortet nicht auf die Frage, ob diese Personen ihren Lohn erhalten werden. Von den Arbeiterinnen hören wir, dass die Firma sich weigert sich, sie zu bezahlen.

6,80 Euro netto pro Stunde, 9,80 Euro pro Bett

In den Arbeitsverträgen, deren Kopien der DW vorliegen, lesen wir von Bezahlung "in einem Bonussystem unter Beibehaltung des Mindestlohns" (aktuell 9,50 brutto pro Stunde). Die Arbeiter sprechen lieber vom Nettolohn. Für sie ist es wichtig, wie viel sie mit nach nach Hause bringen können. Dieser Satz schwankt jedoch täglich. Zuletzt sei es 6,80 Euro netto pro Stunde, sagen zwei Angestellte. Pro Tag werden 9,80 Euro für die Unterkunft und Mittagessen abgezogen.

Um in diesem System gutes Geld zu verdienen, muss man so viele Stunden wie möglich schuften: deswegen arbeitet man 7 Tage in der Woche, manchmal 11 Stunden am Tag.

Angst vor längerer Quarantäne

Nach zwei Tagen kehrten aber immer mehr Frauen zur Arbeit zurück. "Sie wussten, dass wir nicht weg können”, sagt eine von ihnen. Außerdem mussten sie jeden Tag weiter für ihre Unterkunft bezahlen.

Mitarbeiter, die nach Polen zurück möchten, stehen vor einem Dilemma: "Wenn sich eine Kollegin am Band infiziert, wird meine Quarantäne verlängert”, erklärt eine Arbeiterin. Unter ihnen sind auch einige, für die die verlängerte Quarantäne bis zum 18. Mai gilt. Aus der geplanten Heimreise schon an diesem Freitag (13. Mai) wird vorerst nichts. 

Geld verdienen und schnell zurück

Barbara, die dieses Jahr zum ersten Mal zu Thiermann kam, erinnert sich an ihre entschlossene Haltung: "Ich habe gehört, dass es schwer sei, aber ich habe keine Angst vor der Arbeit”, sagt sie. Nach ein paar Wochen auf dem Bauernhof schwört sie: "Nie wieder. Nicht unter diesen Bedingungen, nicht für dieses Geld”.

Trotzdem kommen jedes Jahr viele zurück. "Unser Plan ist jedes Jahr der gleiche: Kommen, Geld verdienen und so schnell wie möglich zurück fahren”, sagt Agnieszka.

In diesem Jahr macht ihnen die Pandemie einen Strich durch die Rechnung. 

Spargelernte trotz Quarantäne

 

Korrektur am 18.5.2021: In einer früheren Version des Artikels hieß es, Heinrich Thiermann sei während des Streiks auf Forderungen nach einer Lohnerhöhung nicht eingegangen. Dies wurde nun korrigiert, da eine Erhöhung des Gehalts um fünf Prozent versprochen wurde. Die Redaktion bittet den Fehler zu entschuldigen.